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Walter Baumann alias W A L B A U M
( 1 9 1 5 – 1 9 9 3 )

Walbaum in der Curiositäten-Arena, Fotografie von Niklaus Strauss
Walbaum in der Curiositäten-Arena, Fotografie von Niklaus Strauss

Baumann mit Vorname Walter. Das ist sein richtiger Name. Doch für die, die ihn kannten, für die war er „Walbaum“. Er war ein aussergewöhnlicher Mensch - ein Lebenskünstler, der mit sich und seiner Umwelt im Einklang war. Gelernt hat er Eisenwarenverkäufer und später Bau- und Flachmaler in der Werkstatt seines Vaters. Diesen Beruf übte er als Broterwerb auch bis zum Pensionsalter aus. Aber bereits 1930, mit 15 Jahren, begann Walbaum zu schreiben - nur für sich - aus seinen intuitiven Gedankengängen heraus. Walbaum bezeichnete seine ersten poetischen Schreibversuche als „Schreib-Anwandlungen“, die an Direktheit nichts zu wünschen übriglassen und heute noch aktuell sind. Immerzu spontan und aus dem Bauch heraus erfand er den richtigen Vers zur jeweiligen Situation. Ein Stichwort genügte und schon sprudelten druckfertige Verse aus ihm heraus. Entwürfe machte er nie. Liebevoll signierte er seine Gedichte mit „Walbaum“ in Form eines kleinen Bäumchens, „das nicht in den Himmel wächst und von einem Wall schützend umschlossen, in seiner Entfaltung aber nicht behindert wird“, wie er es selbstironisch formulierte:

ÖB ICH ZVILL WELL
ÖB ICH ZVILL WELL

Geboren wurde Walter Baumann am 6. September 1915 im Toggenburg. 1927 zog die Familie mit den fünf Söhnen nach Zürich, wo der Vater im Seefeld eine Malerwerkstatt betrieb und Sohn Walter vom Eisenwarenverkäufer zum Bau- und Flachmaler umschulte. Für Walbaum wurde Zürich zur Heimat, zur grossen Liebe, der er zeitlebens treu blieb. Er fühlte sich in allen Stadtteilen wohl, wohnte in den Kreisen 2, 4, 7 und 10. Doch richtig zu Hause war er im Kreis 1, zuerst an der Schipfe. An dieser Adresse war er wegen seines angeblich nicht immer seriösen Lebenswandels jedoch nicht lange geduldet und wurde vertrieben: „De Poet Walbaum ghört in es Loch zwüsched Hüer. und Süffel“, liess man ihn wissen. Walbaum zog mit seinen beiden Katzen Stella und Celly in zwei winzige Zimmer an der Chorgasse 7, die für die letzten 24 Jahre seines Lebens seine Bleibe waren. Von da aus schrieb er, der nie ein Blatt vor den Mund nahm, dem Liegenschaftenverwalter seiner einstigen Wohnung an der Schipfe mit Genugtuung: „Lieber zwüsched Huerä und Süffel als zwüsched Henker und Büffel“. Hier, mitten in der Altstadt war sein Lebenszentrum. Doch er war weit über das Niederdorf hinaus bekannt – als Lebenskünstler, Stadtoriginal, Lambrettafahrer, Poet, engagierter Moralist, Schauspieler, Bäcker und gutmütiger liebenswürdiger und geselliger Mensch, der es verstand, sich ohne viel Aufhebens in Szene zu setzen und für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Er war Narzisst im besten Sinne des Wortes, mochte sich selbst, um andere lieben zu können: „Wer sich selbst nicht mag, kann auch andere nicht gernhaben, der will nur besitzen, was er nicht hat“, war seine Devise, die ihn durch das Leben trug. Das schlohweisse schulterlange Haar und sein wallender Bart gehörten ebenso zu seinen Markenzeichen wie die legendären ausdruckstarken Kulleraugen, mit denen er einen so in Bann ziehen konnte, dass man nicht mehr von ihm lassen konnte - erst recht nicht, wenn er dabei aus dem Stegreif und mit viel Theatralik seine eigenen Gedichte rezitierte, die er zuweilen auch in der klassischen Versform des 5-füssigen Jambus zu schreiben verstand.

Walbaum war ein rundum fröhlicher, aber ganz und gar nicht oberflächlicher Mensch. Er engagierte sich aktiv in der Arbeiterbewegung, für die er auch eindrückliche Plakate gestaltete. Die Entwicklung der Atombombe, die AHV, der Naturschutz oder die Gleichstellung der Frau beschäftigten ihn ebenso wie der Lauf der Welt. Immer ging ihm etwas durch den Kopf, und nicht selten kamen ihm die besten Einfälle während der Arbeit: „Als ich einmal bei fürchterlichem ‘Sauwetter’ die Aussenwand eines Erkers streichen musste, fielen mir die Worte ein: ‘Höher zu streben sei uns gegeben, schon ein Gedanke verändert die Welt’“. Abends in der Wirtschaft, wo es viel wärmer und aufgeräumter war als in seiner eigenen Wohnung, entstand daraus eines seiner unzähligen Gedichte. Es gibt im Zürcher Stadtarchiv eine unüberblickbare Menge davon und dazu noch viel mehr Aphorismen auf kleinen Karteikarten. Nur wenige wurden veröffentlicht. Am bekanntesten ist „Walbaums Zoo“, ein schmales Bändchen mit 69 Walbaum-Tierversen und Illustrationen von Scapa, 1973 im Benteli-Verlag erschienen. Was auf den ersten Blick so gefällig daherkommt, entpuppt sich bei genauerem Lesen - wie ein Wolf im Schafspelz – als bissig humorvolle Kritik an der menschlichen Kreatur und unserer Zeit.

Walbaums Zoo
Walbaums Zoo, Cover

Einige Texte hat Walbaum in seinem Eigenverlag „Rosengarten“ in Kleinstauflagen als bibliophile schmucke Büchlein herausgegeben. Jedes für sich ist ein originelles Unikat, eigenhändig gestaltet und gebunden– dem Thema angepasst. So stanzte er in seinem „Eierbüchlein“ alle „ei“ in den Gedicht-Texten in Ei-Form aus; und die 50 Stück des Leporellos „Der Lindenhof – eine romantische Serenade in unserer Zeit“ band er mit einem ausklappbaren, mit lindengrünem Papier bezogenen Karton ein, den er mit Lindenblütenparfum bestrich, sodass bei den glücklichen Besitzern der kleinen Kostbarkeit wohl jahrelang ein frühlingshafter Hauch von Lindenduft aus dem Büchergestell strömte.

Walter Baumann war ein Multi-Talent, das die, die ihn als Walbaum kannten, poetisch, theatralisch, musikalisch, und sogar kulinarisch verwöhnte und bereicherte. Er stand nicht nur als Statist auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern spielte u.a. im Zweipersonenstück „Bruchstück 1“ von Samuel Beckett den kriegsversehrten Einbeinigen im Rollstuhl im Theater Zoa an der Steinwiesstrasse, zusammen mit dem Schauspieler Otto Dornbierer, der den Part des Blinden übernahm. Und auch im Freilichtspiel „Siegawyn und Ethelfrieda“ der Badener „Claque“ wurde Walbaum die Hauptrolle übertragen. Zudem hatte der stattliche Walbaum eine tragende Stimme und beherrschte die „Instrumente“ Backpfeife und Kehlkopf, wie er zu sagen pflegte, aus dem Effeff. Kein Geringerer als Tibor Kasics, u.a. musikalischer Leiter am Schauspielhaus Zürich und Komponist beim Cabaret Cornichon, liess sich von Walbaum neue Melodien vorsummen. Ein Erlebnis der besonderen Art muss es auch gewesen sein, wenn Walbaum mit seinem Schnapsflöteli Marke Eigenbau (eine Art Panflöte aus kleinen Schnapsfläschchen) seine eigens komponierten Lumpenlieder zum Besten gab. Reich wurde Walbaum mit all seinen Talenten nicht. Er lebte in Bescheidenheit und Zufriedenheit, Materielles war für ihn zweitrangig. Er war mit sich und der Welt im Reinen und freute sich, wenn er anderen Freude bereiten konnte – mit geistreich witzigen Gedichten, wunderbaren Büchlein, eigenen Liedern, unvergesslichen Theaterauftritten oder auch einem Happen seines legendären Kräuterbrots „Mönchs-Chopf“ mit 45 Ingredienzen, dem er – wie könnte es anders sein - auch ein Gedicht widmete:

Chrüüterbrööter
W A L B A U M'S Chrüüterbrööter

Walbaum selbst hat das Brot mit dem Attribut „k.k.k = köstlich, knusprig, kurlig“ beschrieben. So muss es auch geschmeckt haben. Und es erstaunt deshalb nicht, dass Walbaum in der Todesanzeige neben Kunstmaler, Poet, Liedermacher, Sänger, Kneipenphilosoph, Schauspieler und Erfinder auch Bäcker genannt wurde. An seiner Abdankung nahmen 200 Menschen teil, und La Lupa sang das Lied „L’âme des poètes“ von Charles Trenet, in welchem die Unvergänglichkeit einzigartiger Werke wie sie auch Walbaum hinterlassen hat, besungen wird. 1995, zwei Jahre nach seinem Tod, wurde auf Initiative von Walbaums Freundeskreis (darunter sein Bruder Werner Baumann, die Leiter des ehemaligen Kulturforums Fourmière Dona und Remo Galli, der Archivar Gian Andrea Nogler, der Fotograf Theo Aebersold sowie der Gastro-Promoter Röne Minder) im Restaurant Morgensonne ein würdiges Gedenk-Fest mit einer Ausstellung von Walbaum-Erinnerungsstücken organisiert. Natürlich war da auch die legendäre rote Lambretta dabei. Walter Baumann hatte sie auf der Vorderseite mit seinem Walbäumchen als sein Eigentum gekennzeichnet. Nichtsdestotrotz oder vielleicht gerade deswegen musste er sie insgesamt acht Mal als vermisst melden. Aber sie kam immer wieder zu ihrem Besitzer zurück – zum Glück. Für Walbaum, der zeitlebens kaum über die Zürcher Kantonsgrenze hinausgekommen war, bedeutete der fahrbare Untersatz die grosse Freiheit. Mit ihm transportierte er einst die Malerutensilien, und auch später kurvte er damit durch Zürichs Strassen. Man erkannte ihn von Weitem an seinen langen Haaren, die unter dem Helm hervorwehten und den stechenden Kulleraugen, die sich auf das Pflaster konzentrierten. Wegen dieses unverkennbaren Anblicks erhielt er den Spitznamen „Ameisli“.

Wenndochmaal
Wenndochmaal

Yvonne Türler

Editorial

Walbaums Schaffen kennzeichnet eine elementare Spontanität – so zumindest beschreibt Karin Beck in der Einleitung des im Stadtarchiv Zürich aufbewahrten Nachlasses (VII.373.) dessen Umgang mit Format und Sprache. Walbaum schuf keine klassischen Lesetexte, sondern vielmehr Leseerfahrungen. Er setzte sich mit Schrift, Farbe und Illustration auseinander und kreierte so aufwendige Gesamtkompositionen voller Charakter. Seine Gedanken fanden dabei auf unterschiedlichsten Trägern ihre materielle Form. Mal musste ein Tischset, mal ein Bierdeckel oder eine Postkart für seine scheinbar flüchtigen Arbeiten herhalten.

Es überraschte uns daher sehr, als wir im Archiv auf eine Vielzahl von Entwürfen stiessen. Speziell in Erinnerung ist uns dabei der Text «Faschtnumenumesuscht», welcher mittig auf ein Tischset gesetzt wurde. Mittels Mockups und anderen geklebten Entwürfen tastete sich Walbaum Schritt für Schritt an die finale Komposition heran, ohne dabei den ursprünglich, flüchtigen Ausdruck zu verlieren. Der Impuls für Walbaums schaffen liegt also zweifellos im Spontanen. Seine Akribie und Beständigkeit sind es aber, die dem Werk langfristig seine Dringlichkeit verleihen.

Die Ihnen vorliegende digitale Publikation funktioniert als Hybrid zwischen Lese- und Kunstbuch. Sie erlaubt ein intuitives Stöbern als auch eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den Texten und fokussiert dabei auf den variantenreichen Formatumgang Walbaums. Walbaums Texte werden ihrem Originalformat entsprechend hinterlegt und transkribiert. Verändert die Leser*in die Proportion des Textblocks auf der Startseite, wird ihr ein neuer Inhalt präsentiert. Die Nutzer*innen können dabei entscheiden, ob sie sich durch die Transkripte oder durch das Originalmaterial bewegen möchten. Über die Sortieren Funktion kann zudem ein individueller Lesestrang zusammengestellt werden, welcher eine thematische Vertiefung in Walbaums Werke erlaubt.

An dieser Stelle möchten wir uns herzlich für die Unterstützung vom Musée Visionnaire mit Manuela Hitz und Yvonne Türler bedanken, die den Anstoss für die Publikation gaben und immer mit Rat und Tat zur Seite standen. Wir danken Jonas Vögeli und Matthias Michel für das gestalterische sowie editorielle Feedback und Johannes Gruber für den grossartigen Webcode.

Nayla Baumgartner, Louis Vaucher, Fabio Menet

CREDITS und IMPRESSUM

©2021

Musée Visionnaire und Urgent and Moving Editions

KONZEPTION:
Urgent and Moving Editions:
Nayla Baumgartner,
Fabio Menet,
Louis Vaucher

GESTALTUNG:
Data-Orbit, Studio für Visuelle Kommunikation
data-orbit.ch

WEBCODE:
Johannes Gruber,
Union-Union
unionunion.ch

INITIATION:
Musée Visionnaire:
Manuela Hitz (Künstlerische Leitung)

TEXTE, SCANS UND BILDER:
Stadtarchiv Zürich, VII.373. Walter Baumann alias Walbaum (1915–1993) Mundartschriftsteller und Stadtoriginal.
Nachlass

VORWORT
Musée Visionnaire,
Yvonne Türler (Leitung)

SCHRIFT:
Mogelsberg Mono/Wurscht Medium,
Fabio Menet

Die vorliegende Publikation «WALBAUM» wurde in Kooperation mit dem Musée Visionaire im Rahmen der Bachelorarbeit an der Zürcher Hochschule der Künste erarbeitet.

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WALBAUM

Die Walbaum-Publikation
ist nicht als Taschenbuch
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